Seit Jahren arbeiten sich 100 Kilo Herz unermüdlich durch die Punkrocklandschaft Deutschlands. Album, Tour, Album, Tour, Album, Tour, dazwischen ein Besetzungswechsel und unzählige Auftritte auf Festivals. Jetzt steht wieder eine neue Platte mit dem Titel „Hallo, Startblock“ an, die mitten im Hochsommer veröffentlicht wird. Nachdem 2023 der langjährige Sänger Rodi die Band verlassen hatte und sich mit Steffen, den man auch als Grundhass kennt, ein neues Gesicht an Bass und Mikrofon gestellt hat, wurde es höchste Zeit, sich über dieses neue Bandkapitel auszutauschen. Kurz vor Albumrelease setzten wir uns also mit Steffen zusammen, um u.a. über seinen Einstieg in die Band, den großen kreativen Schub der daraus resultierte und die unermüdlichen Tour-Ambitionen von 100 Kilo Herz zu sprechen. Zusätzlich ging es um das Leben als Punkrocker auf dem Land und warum es gerade in oft unterbewerteten Städten wie Hannover zu den geilsten Konzerten kommen kann.

AWAY FROM LIFE: Lass uns mit dem Offensichtlichen anfangen: du bist als Sänger neu dabei und nun natürlich das Gesicht der Band. Wie kam es dazu, dass du jetzt bei 100 Kilo Herz singst?
Steffen: Ich finde das tatsächlich immer ganz lustig, wenn das Thema jetzt angesprochen wird. Innerhalb der Band dachten wir uns, dass wir das ganze gar nicht so breit treten wollen, da ich ja schon seit eineinhalb Jahren dabei bin und wir letztes Jahr auch schon zusammen Musik rausgebracht haben. Aber klar, wenn jetzt das erste richtige Album in der Konstellation rauskommt, fragt natürlich jeder nach. Tatsächlich kannten wir uns vorher gar nicht. Ich selbst habe davor auch schon solo Musik gemacht, unter dem Namen Grundhass. Als Rodi sich damals entschlossen hatte, die Band zu verlassen, stand der Rest erstmal vor der Frage, ob es überhauot weiter geht. Recht schnell kamen sie dann zu dem Schluss, dass es weiter gehen wird und es gab, meines Wissens nach, zwei Ideen. Eine davon war ich, da einige der Jungs meine Musik schon kannten. Auf der einen Seite passte es inhaltlich, auf der anderen Seite sollte es aber auch keine Kopie von Rodi sein. Und dann kam im Frühjahr 2024 einfach eine Anfrage über Instagram. Zuerst habe ich das auch gar nicht so ernst genommen, da die Nachricht Abends um 22 Uhr kam. Als wir dann aber telefoniert, uns im Proberaum getroffen haben und es sowohl menschlich als auch musikalisch Klick gemacht hat, war die Sache ziemlich schnell klar.
AFL: Ich finde, dass sich das neue Album sehr gut in die bisherige Diskografie einordnet. Klar ist der Gesang nochmal anders, es ist aber insgesamt kein völlig harter Cut. Ich kann mir trotzdem vorstellen, dass es gerade für dich aktuell extrem spannend ist, die Reaktionen der Fans auf die neuen Songs mitzubekommen. Wie hast du die ersten Single-Releases wahrgenommen?
Absolut! Vor jedem Release war ich total gespannt, wie die Leute reagieren würden. Zwar hatten wir letztes Jahr mit unserer 2-Song-EP schon einen kleinen Test, aber so ein Album kriegt natürlich nochmal eine ganz andere Aufmerksamkeit. Natürlich war auch ein kleines bisschen Angst dabei, da ich mit dem Album aber total zufrieden bin und der Meinung, dass wir eine richtig gute Platte gemacht haben, dachte ich mir: „lass die ersten Kritiken kommen.“ Und die waren dann überwiegend positiv.
„Das ganze Album ist ja gespickt mit Anspielungen auf andere Bands und Musiker*innen, die wir gut finden. Der Titel selbst bezieht sich auf But Alive! und „Hallo, Endorphin“, ein Album das wir alle sehr gut finden.“
AFL: Das Album läuft, meiner Meinung nach, sehr gut in einem Guss durch und ist richtig stark geworden. Ich kann mir vorstellen, dass ihr so auch nochmal einige neue Fans dazu gewinnen werdet.
Das sehen wir tatsächlich auch gerade im Festivalsommer. Da scheinen viele Leute im Publikum, die die Musik von uns bisher noch nicht kannten, sehr gut drauf anzuspringen.
AFL: Dann lass uns zur zweiten klassischen Interviewfrage kommen: Wie kam es zum Albumtitel „Hallo, Startblock“ und dem sehr cleanen Albumcover?
Das ganze Album ist ja gespickt mit Anspielungen auf andere Bands und Musiker*innen, die wir gut finden. Der Titel selbst bezieht sich auf …But Alive und „Hallo Endorphin“, ein Album das wir alle sehr gut finden. Der endgültige Vorschlag zum Titel kam von unserem Gitarristen Marco, wobei wir vorher eine Liste von über 200 Ideen hatten. Da war natürlich auch viel Quatsch dabei, „Hallo, Startblock“ hatte sich dann aber sehr gut angefühlt, da es die aktuelle Situation der Band perfekt repräsentiert. Es ist zwar kein Neuanfang, trotzdem springen wir in ein neues Gewässer. Bezüglich des Covers lag dann der Gedanke zu Schwimmbad/Freibad sehr nahe. Am Ende hat dann alles von selbst sehr gut zueinander gepasst und sich sehr gut angefühlt.

AFL: Wann habt ihr angefangen, die Songs zu schreiben? Wie lang dauerte der ganze Schreib- und Produktionsprozess und wie seid ihr das Ganze angegangen?
Am Anfang hat sowohl die Band bei der Musik als auch ich bei den Texten einfach losgelegt. Angefangen zu schreiben haben wir gegen April letzten Jahres und über Neujahr sind wir dann zwei Wochen ins Studio gegangen. Wir hatten super viele Ideen, da sich in der neuen Besetzung, auch mit Christian, dem neuen Gitarristen, alle irgendwie beweisen wollten. Am Ende hatten wir einen Ordner mit 50-60 Songideen über die wir dann ganz demokratisch abgestimmt haben. Jeder konnte in einer Excel-Tabelle Punkte für die einzelnen Songs vergeben, wovon es die zwölf besten ins Studio geschafft haben. Als Solokünstler war es für mich dann aber auch neu, wie eine Band als Kollektiv so eine Songidee nochmal komplett verändern kann. 3:00, die Ballade auf dem Album, hatte ich eigentlich als super schnellen Punkrock-Song geschrieben. Im Studio hat dann Flo Novack, der Produzent, der im deutschsprachigen Punkrock eh schon alles und jeden aufgenommen hat, auch nochmal seinen super guten Input geliefert.
AFL: Gerade das mit der Excel-Liste find ich spannend. Kann es da nicht trotzdem manchmal vorkommen, dass sich ein Bandmitglied richtig ärgert, dass es ein Song nicht unter die finalen zwölf Nummern schaftt? Oder seid ihr so demokratisch und sagt, dass das System keine Ausnahmen zulässt?
Klar, kann das mal vorkommen. Ich kann die Ideen, die es nicht reinschaffen ja zum Glück noch im Solo-Projekt behalten haha. Tatsächlich gab es mit Leben und sterben lassen aber einen Fall, bei dem ein Song nicht in den Top zwölf war. Unser Drummer Falk hat jedoch so für dieses Lied plädiert, dass wir es am Ende doch reingetan haben. Und der Song wurde dann richtig cool. Insgesamt muss man ein großes Ego aber auch hinten anstellen.
„Wir hatten super viele Ideen, da sich in der neuen Besetzung, auch mit Christian, dem neuen Gitarristen, alle irgendwie beweisen wollten.“

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AFL: Welcher Song für mich sehr rausgestochen ist, ist Wir sind hier nicht in Seattle mit Jack Pott. Für mich als Stadtkind, das im Rheinland aufgewachsen ist, stellt man sich das Provinzleben oft entweder total entschleunigend und idylisch oder total langweilig und konservativ vor. Wie ist es denn nun als Band, die aus dem ländlichen Raum kommt und wie spiegelt sich das in der Musik wieder?
Ich selbst komme aus einem 800-Seelen Dorf aus dem Sauerland in NRW. Für mich war dann schon Bonn auf einer Klassenfahrt die absolute Großstadt. Aber klar, auch wenn wir wahnsinnig viele tolle Dörfer und auch ganz viele coole Menschen dort kennengelernt haben, muss man zugeben, dass die progressiven Ideen, die unsere Gesellschaft nach vorne gebracht haben, eigentlich immer aus urbanen Regionen kamen. Es geht mir dabei auch gar nicht immer um das politische. In meinem Dorf waren die Leute jedoch oft voller Neid und Missgunst, wo niemand wem anderes etwas Gutes gewünscht hat. Und das ist eine Einstellung, die ich total zum kotzen finde. Vor allem für progressiv denkende Menschen ist es nicht gerade ein cooles Erlebnis, dort aufzuwachsen, weshalb ich das in dem Song verarbeiten wollte. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich als einziger in der Band in einem westdeutschen Dorf aufgewachsen bin. Andere in der Band mussten auch mal vor Baseballschläger-Nazis wegrennen, was natürlich eine ganz andere Geschichte ist. Jack Pott, die ja alle aus Bad Schwartau an der Ostsee kommen, waren dann als gute Freunde von mir sofort mit dabei.

AFL: Am Ende schafft es der Song eine spannende Story zu erzählen und trotzdem nicht alles total schwarz zu malen…
Es ist auf jeden Fall ein Augenzwinkern drin. Es gibt ja auch von der Antilopen Gang des Song Das Zentrum des Bösen, bei dem das Zentrum des Bösen immer der Dorfplatz ist. Den Song fühle ich auch irgendwo, allerdings würde so etwas Dolles nicht aus mir rauskommen.
AFL: Ihr habt bisher einen krassen Festivalsommer mit riesigen Events gespielt…
Und spielen ihn immer noch. Alleine auf dem Highfield werden wir jetzt drei Konzerte an einem Wochenende spielen haha.
AFL: Absolut krass! Wie war der bisherige Sommer und wie kamen die ersten neuen Singles live an?
Total gut, sie haben sich super eingereiht. Das merkt man dann besonders wenn die Leute, die einen noch nicht kannten, bei allen Liedern mitgehen – für die ist ja alles quasi „neu“. Was die konkreten Lieder angeht, fand ich es sehr witzig, dass der neue Song Alles, der ja gar keine Single war, und bei dem sich Teile der Band auch unsicher waren, ob wir ihn überhaupt jetzt schon spielen sollen, sehr gut ankam und total eingeschlagen ist. Der Song ist jetzt schon eine Standart-Nummer im Festival-Set. Wir sind total happy mit der Resonanz!
„…auch wenn wir wahnsinnig viele tolle Dörfer und auch ganz viele coole Menschen dort kennengelernt haben, muss man zugeben, dass die progressiven Ideen, die unsere Gesellschaft nach vorne gebracht haben, eigentlich immer aus urbanen Regionen kamen.“
AFL: Ich meine, ihr habt auf dem Vainstream über 250. Show überhaupt gespielt. Wenn du es dir ausmalen könntest, wie sieht die 500. Show von 100 Kilo Herz idealerweise aus?
Eine richtig geile 500. Show wäre, glaube ich, eher eine eigene und keine Festival-Show. Es muss auf jeden Fall was besonderes sein. Am besten in Leipzig, wo die Band herkommt, in der wunderschönen Parkbühne, Open Air, gefüllt mit 3.000 Leuten, und dazu noch tolle Support-Bands – das fände ich gut. Zwar mache ich mir nicht so viel aus Jubiläen, aber wenn man es macht dann so: Tolle Show, tolle Location, tolle Gäste, tolles Publikum.
AFL: Im Herbst geht es wieder auf große Tour. Welche Städte gehen besonders ab? Ohne natürlich zu sagen, dass es in den anderen Städten nicht abgeht…
Ich persönlich freue mich extrem auf Dortmund, weil ich dort im FZW als Jugendlicher total oft war. Jetzt lebe ich in Berlin, weshalb das Konzert dort im SO36 aufgrund der legendären Location natürlich nochmal einen ganz besonderen Reiz hat. Da habe ich auch als Stagehand und Produktionshelfer schon total oft gearbeitet, weshalb es besonders cool ist, dort bald selbst auf der Bühne zu stehen. Abgesehen von diesen offensichtlichen Städten freue ich mich sehr auf Hannover. Ich glaube, dass Hannover oft total unterschätzt und zu unrecht als langweilige Mittelmaßstadt betitelt wird. Dabei sind die Leute dort super, die Stadt ist schön, und die bisherigen Konzerte waren immer der Hammer!

AFL: Wie lange geht eure Phase zum kommenden Album? Habt ihr schon weiter geplant als die kommende Tour im Herbst?
Wir haben tatsächlich schon große Pläne und wollen mit diesem Album nochmal voll durchziehen. Im Frühjahr 2026 planen wir noch eine Tour, die gerade fertig gebucht wurde und bald angekünfigt wird. Danach wollen wir nochmal einen richtig intensiven Festivalsommer spielen und nicht nur bei den großen Namen sondern auch bei jedem Mini-Festival erscheinen. Und dann kommt im Herbst die 10-Jahre 100 Kilo Herz-Jubiläums Tour mit vier Konzerten. Ich sag noch nicht wo, aber sie wird mit besonderen Gästen und großen Shows stattfinden. Und dann kommt 2027 und da machen wir erstmal Pause.

AFL: Danke dir für das Interview! Hast du noch etwas, was du loswerden möchtest?
Danke dir! Eine kleine Sache tatsächlich: wir haben in den letzten Wochen gemerkt, dass viele Bands in unserer Größe, und auch etwas größer, teilweise etwas mit den Vorverkäufen struggeln. Die Leute rennen auf die großen Konzerte. Ich fände es cool, auch die kleineren Shows wieder etwas ins Auge zu schließen und dort die Vorverkäufe zu nutzen. Denn wenn es die nicht mehr gibt, wird es die großen Konzerte ein paar Jahre später auch nicht mehr geben.
AFL: Da kann ich dir absolut zustimmen!